Frage: Klimaschutz wird immer wichtiger. Ist ein fossiler Brennstoff wie Erdgas überhaupt noch zeitgemäß?
Kemfert: Gerade weil Klimaschutz immer wichtiger wird, wächst in den nächsten Jahrzehnten die Bedeutung von Erdgas. Es produziert weniger Treibhausgase als Kohle und kann flexibel und relativ preisgünstig eingesetzt werden in Verbindung mit Kraft-Wärme-Kopplung zur Erzeugung von Strom und Wärme. Deshalb kann insbesondere Erdgas als Ersatz für volatile erneuerbare Energien eingesetzt werden. Zudem gewinnt Gas als Antriebsstoff auch in der Mobilität an Bedeutung.
FRAGE: Erdgas gibt es offenbar im Überfluss. Bis 2015 sollen die Überkapazitäten laut Internationaler Energieagentur weltweit auf mindestens 250 Milliarden Kubikmeter pro Jahr anschwellen. Braucht Europa da noch die neue Ostsee-Pipeline Nord Stream?
Kemfert: Tatsächlich gibt es derzeit Überkapazitäten. Das liegt aber daran, dass die Nachfrage wegen der weltweiten Wirtschaftskrise eingebrochen ist. In den nächsten Jahren wird der Bedarf wieder wachsen. Insofern ist Nord Stream sinnvoll.
FRAGE: Das Nord Stream-Konsortium hat für die EU im Jahr 2025 eine Importlücke von fast 200 Milliarden Kubikmeter errechnet, ein Drittel des Gesamtbedarfs. Ein realistisches Szenario?
Kemfert: Ja. Es wurde insgesamt auch aufgrund der Wirtschaftskrise zu wenig in die Erschließung neuer Gasfelder investiert. Dass die Pipeline unbedingt durch die Ostsee führen muss, wage ich dennoch zu bezweifeln. Gazprom will offenbar den Landweg durch angeblich unzuverlässige Transitländer vermeiden – obwohl Anrainer wie Polen europäischem Recht unterliegen.
FRAGE: Wer nicht pariert, friert. Hierzulande grassiert die Angst, dass die Abhängigkeit des Westens von russischem Gas mit der Ostseepipeline noch wächst. Ist die Furcht begründet?
Kemfert: Derzeit stammen 40 Prozent der deutschen Gasimporte aus Russland, Tendenz stark steigend. Aber die Abhängigkeit ist wechselseitig. Auch Russland braucht den zahlungskräftigen Westen als Abnehmer. Zudem ist Europa in einer komfortablen Lage. Unabhängig von den Pipelines könnten wir schließlich auch Flüssiggas per Tanker aus dem Nahen Osten oder aus Amerika ordern.
FRAGE: Die EU unterstützt mit viel Geld das Nabucco-Projekt – eine von Russland unabhängige Erdgasleitung durch die Türkei und das Kaspische Meer für fast acht Milliarden Euro. Flüchtet der Westen vor der einen Abhängigkeit in die nächste?
Kemfert: Nabucco ist für Deutschland dann nützlich, wenn es die Zahl unserer Gaslieferanten erhöht.
FRAGE: Danach sieht es nicht aus. Manche Produzenten hat Gazprom rasch eingekauft, damit sie nicht an die Konkurrenz liefern. Woher soll das Gas für Nabucco kommen?
Kemfert: Aus dem kasachischen Raum, aus Turkmenistan und Aserbaidschan beispielsweise oder auch aus Katar. Man muss aufpassen, dass sich keine „Gas-OPEC“ bildet und man einem Angebotskartell ausgeliefert ist. Die Nabucco-Betreiber wie RWE haben zugesichert, die notwendigen Gasmengen aus dem kasachischen Raum geliefert werden und sich zu erheblichen Investitionen verpflichtet.
FRAGE: Die Alternative ist aus politischen Gründen tabu: Der Iran verfügt über enorme Erdgasvorräte und könnte die Nabucco-Leitung auslasten. Wie lange kann sich der Westen sein Iran-Embargo noch leisten?
Kemfert: Derzeit sind Gaslieferungen aus dem Iran sind aufgrund der politischen Lage problematisch. Langfristig wird man auch mit Iran verhandeln müssen, wenn die politische Entwicklung das zulässt.
FRAGE: Wie sieht der deutsche Energiemix im Jahr 2030 aus?
Kemfert: Ein Fünftel Gas, ein Drittel erneuerbare Energie, vielleicht 15 Prozent Kernenergie und der Rest (hoffentlich) umweltfreundliche Kohle.
FRAGE: Gibt es mittlerweile ausreichend Wettbewerb auf dem deutschen Gasmarkt?
Kemfert: Nein, es gibt keinen ausreichenden Wettbewerb. Zwar können die Verbraucher häufig zwischen verschiedenen Anbietern wechseln, die im Europäischen Vergleich hohen Gaspreise und geringe Wechselquoten belegen den unzureichenden Wettbewerb. Innerhalb Deutschlands wird der Wettbewerb vor allem durch die verschachtelte Marktstruktur und die Eigentumsverhältnisse behindert. Nur vier Gasunternehmen – Marktführer Eon Ruhrgas, Wingas, RWE und VNG – importieren Gas aus dem Ausland bzw. sind Inhaber von Gasquellen. Somit kontrollieren sie nicht nur das Gasangebot in Deutschland sondern auch die Verteilung, weil sie überdies die Eigentümer der Pipelines sind. Der Marktanteil dieser Unternehmen liegt bei knapp 80 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Unternehmen Ihre Marktgebiete fest aufgeteilt haben. Auch die rund 700 Regional- und Ortsgasunternehmen sind kein Garant für mehr Wettbewerb. Denn sie sind mit ihrem Gasbezug von den wenigen Ferngasunternehmen abhängig. So beziehen gut zwei Drittel aller Regional- und Ortsgasunternehmen einen Teil ihres Gaseinkaufs von Eon Ruhrgas. Dieser Konzern bezieht den größten Teil des Gases aus Russland, was in langfristigen Lieferverträgen die teilweise bis zu 28 Jahre dauern, zementiert ist. Wettbewerb sieht anders aus.
FRAGE : Für wie sinnvoll halten Sie die Preisbindung des Erdgases an das Erdöl?
Kemfert: Für nicht sinnvoll. Die Ölpreisbindung kommt aus einer Zeit, wo die langfristigen Investitionen gesichert werden mussten zudem wollte man kein billiges Konkurrenzprodukt zu Öl schaffen. Heute will man Wettbewerb und dann muss sich der Gaspreis frei am Markt bilden.
FRAGE: Waren die Preissenkungen der Versorger in den vergangenen Monaten ausreichend?
Kemfert: Ja, die Konzerne haben die gesunkenen Preise an die Verbraucher weitergegeben. Aufgrund der Finanzkrise gab es sogar eine Sondersituation, wo die Gasnachfrage sehr niedrig war und die Gasanbieter Ihre Abnehmerunternehmen mit flexiblen Preisen umworben haben. So war es teilweise lukrativer, Flüssiggas zu kaufen, welches normalerweise viel teurer ist. Die Situation wird sich aber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wieder ändern. Die Preise werden wieder ansteigen.
FRAGE: Wie steht es mit der Versorgungssicherheit beim Gas – wird diese durch neue Pipelines erhöht?
Kemfert: Die Sicherheit der Versorgung ist gewährleistet. Speziell in Deutschland sind wir in der komfortablen Position, dass wir durch unterschiedliche Pipelines unsere Gasversorgung sicherstellen können. Durch Gasspeicher sind wir zudem gut vor Versorgungsengpässen geschützt. Die neuen Pipelines erhöhen die Versorgungssicherheit, ja.
FRAGE: Wie ist die Abhängigkeit von Gasprom?
Kemfert: Gasprom ist der größte Gasanbieter. Zurzeit importiert Deutschland rund 44 Prozent seiner Gaslieferungen aus Russland. Dieser Anteil dürfte künftig noch steigen, insbesondere durch die neue Ostseepipeline. Russland besitzt die weltweit größten Gasvorkommen, während die Ressourcen von Lieferländern wie Norwegen und den Niederlanden schwinden. Um politische und strategische Risiken zu begrenzen und den Wettbewerb zu stärken ist eine Diversifikation von Gasanbietern und Transportwegen – Stichwort LNG – deshalb dringend geboten. Leider hat Deutschland keinen eigenen LNG Terminal, auch die EU importiert nur 17 Prozent des Gases via LNG.